Berliner Kantorei

 

aus: Mein Weg zur Musica Sacra

 

 Die Berliner Kantorei

Die Kirchenleitung hatte mir das Amt des Landeskirchenmusikwarts übergeben. Im Einvernehmen mit Generalsuperintendent D. Jacobi lud ich die Kirchenmusiker Berlins zu einer Singtagung im Haus Bethanien ein. Ehe wir auseinandergingen sangen wir die Schützmotette: “Ich bin ein rechter Weinstock”. Als verklungen war “ihr bleibet denn in mir”, sagte ich nur noch: “Darauf kommt es an, absolut”. Die Frucht der Singwoche war die “Berliner Kantorei”. Die Kantorin und Organistin der Apostel-Paulus-Kirchengemeinde in Berlin-Schöneberg, Frau Ruth Spitta, berichtet:  Jeden Montagvormittag trafen wir uns zu einer Art Arbeitsgemeinschaft im Gemeindehaus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Beim Singen des Psalms der Woche erfuhren wir die starke objektivierende Kraft der Psalmtöne und übten  uns in der schweren Kunst des einstimmigen Singens. -- Als ganz besonders produktiv erwiesen sich die gemeinsamen chorischen Studien. Das Singen im Kollegenkreis hatte den Vorteil, dass die technischen Dinge mühelos bewältigt wurden, und so die Freude an der Arbeit vorherrschte, die den Einzelnen dazu befähigte die mühsame Kleinarbeit im eigenen Gemeinde-Laienchor fröhlicher als bisher zu tun. --- Zur vorhin erwähnten “Mühelosigkeit” ist freilich eine Einschränkung bzw. Ergänzung nötig: Sie bezieht sich lediglich auf das musikalisch Materielle, das selbstverständliche Vom-Blatt-Singen der Kirchenmusiker. Unsere Kleinarbeit bestand nun in dem Erstreben eines vom jeweiligen Werk geforderten, ihm adäquaten Chorklanges.  Hier galt es, eine äußerst elastische, feinfühlige Führung der Stimmen zu erreichen, ein Vermeiden jedes nur von außen aufgesetzten Effektes. Stimmbildungs- und Atemübungen waren notwendiges “Handwerkzeug”, und auch die Psalmodie, die Einübung des völligen Sich-Zurücknehmens, war eine heilsame Lehre. Dies Ausfeilen bis zum Letzten, dies hohe Ziel, sich nicht mit dem “Ungefähr” zufrieden zu geben, kennzeichneten diese beglückende Arbeit, die unsere Berliner Kantorei zur Trägerin einer sehr intensiven, sehr stillen Botschaft der Musica sacra werden ließ. Und diese Art der chorischen Arbeit trug nun ihre Früchte in unseren eigenen Gemeindechören, wo nun auch Atem- und Stimmbildungsübungen jede Chorstunde einleiteten und wo – im Maße des Erreichbaren – die stimmliche Durcharbeitung der Chorwerke gesucht wurde.

Ein Jahr nach der Gründung der Berliner Kantorei, im Frühjahr 1953, trafen wir uns wieder zu einer Singwoche, diesmal im Elisabeth - Krankenhaus. Hier stellten wir uns die erste größere gemeinsame Aufgabe nach dem Motto: “Was nicht stehet im Dienst, das stehet im Raub.” Hier wollten wir die Berliner Gemeinden teilnehmen lassen an unserem Tun. So erarbeiteten wir die Bach’sche “Matthäuspassion”. Bei aller Präzision der künstlerischen Arbeit stand die Aussage, die Verkündigung im Zentrum. So wurden denn auch die drei Darbietungen – in der Kirche am Hohenzollernplatz, in der Johanneskirche in Frohnau und in der Schöneberger Apostel-Paulus-Kirche – von der Gemeinde (vertreten durch die Kirchenmusiker) für die Gemeinde dargebracht, nicht als Konzerte, sondern als Gottesdienste. Und die Gemeinden empfanden dies voll Dank. Hier hörten wir Frau Kelletats schöne, warme Altstimme, wie bei späteren Abendmusiken auch die strahlenden Soprane der Töchter Renate und Erdmute. Eine Familie im Dienste der Musica sacra.

Auf zwei Singfahrten kam es für uns “Insulaner” zu wohltuenden Begegnungen mit Gemeinden in Westfalen, im Rheinland und in Bayern.

Auf der Moselfahrt nach Traben-Trarbach 1953 erlebten wir in Maria-Laach in einem Stundengebet den Sprechgesang der Psalmen, “authentisch”, wie vor tausend Jahren.

Als die Mönche in ihren Zellen verschwunden waren, sangen wir im Klosterhof unseren Psalm, die Schütz-Motette “Die Himmel erzählen die Ehre Gottes”. Die Zellenfenster öffneten sich, und die Mönche hörten ein Zeugnis unserer evangelischen Tradition – ein kleines Kapitel “Una Sancta”.

Die zweite Singfahrt ging ins “Land der Franken”. Krönender Abschluss war die Abendmusik in St. Lorenz in Nürnberg. Gewaltig der Raum, in schwindelnder Höhe die Chor- und Orgelempore. Es war eine Wonne, in dieser herrlichen Kathedrale zu musizieren. Alles Singen und Klingen, auch Joh. Seb. Bachs F-Dur-Toccata auf der Orgel (Peter Wackwitz) und Solistisches auf der Blockflöte (Renate Kelletat), es wurde zu deutlicher Aussage und erblühte zu strahlender Schönheit.

Mit dieser Singfahrt ging die Arbeit der Berliner Kantorei zu Ende.  Hier das Schlusswort der Kantorin Ruth Spitta:  Keiner von uns wird je die drei Jahre der Berliner Kantorei vergessen. Wir zehren alle – bewusst oder unbewusst – von der Frucht dieser Arbeit, wir sind alle von ihrem Geiste mitgeprägt worden.

Im Einvernehmen mit Generalsuperintendent Krummacher bat ich die Kirchenmusiker seines Sprengels zu einem Singtag in Ostberlin. Da kam folgender Anruf: “Hier ist der Warndienst. Sie sind doch aus Königsberg, wir warnen Sie, sich in den Ostsektor zu begeben.” Der Generalsuperintendent recherchierte: Es gab keinen “Warndienst”. Der Anruf konnte nur aus kirchenmusikalischem Umfeld stammen. Der sowjetische Sektor war für mich noch immer eine Gefahrenzone.  Krummacher wusste, warum. Sollten wir das Treffen lieber absagen? Nein!! Wir fuhren, am Auto der kirchliche Stander, durchs Brandenburger Tor, blieben unbehelligt. Es war ein schöner Tag unter Brüdern und Schwestern, -- aber -- etwas anstrengend. –