CD-Begleittext zu

 

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D.Buxtehude  J.Pachelbel J.G.Walther  W.F.Bach
Choralbearbeitungen    Partiten     Variationen

Erdmute Kather   Cembalo

Herbert Kelletat: Einführung

      Prof. Dr. Herbert Kelletat, Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker, geb.1907,
      lebt und wirkt in Flensburg.               (zu Leben und Werk siehe www.kelletat.de)
      Die Cembalistin Erdmute Kather ist seine Enkelin.

Die evangelische Kirchenmusik tritt mit dem Kirchenlied in die Geschichte ein. Martin Luther sagt Ich bin willens, deutsche Psalmen für’s Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, dass das Wort Gottes durch den Gesang unter den Leuten bleibe. Formales Vorbild ist das Volkslied.

Zum Text des Chorals Was Gott tut, das ist wohlgetan von Samuel Rodegast, Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin, schuf Severus Gastorius, Kantor in Jena, die Melodie. Werde munter, mein Gemüte dichtete Johann Rist, gekrönter Poet, vom Kaiser geadelt, Gründer des Dichterbundes Elbschwanorden. Johann Schop, mit Rist befreundet, Leiter der Ratsmusik in Hamburg, berühmter Geigenspieler, vertonte den Text.

Volkslieder werden “geistlich gewendet”. Die Melodie zum Choral Nun lob, mein Seel, den Herren gehörte zum Volkslied Weiss mir ein Blümlein blaue aus dem 15. Jahrhundert. Hans Kugelmann, Herzogs Albrecht von Preussen, hat das Lied “geistlich gewendet”. Das zweite Beispiel: Herzlich tut mich verlangen auf die Melodie des Volksliedes Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart, einer Melodie mit den widerborstigen Rhythmen eines verschmähten Liebhabers (Arnold Schering). Hans Leo Hassler, Komponist von Liedbearbeitungen, hat die Melodie geglättet.

Der Reformator schätzte das liturgische Erbe. Der altkirchliche Hymnus Christe, qui lux es et dies wurde übersetzt, umgeformt und erweitert zum Choral Christe, der du bist Tag und Licht. -- Der Tischsegen des Mönchs von Salzburg wird zum Choral Vater unser im Himmelreich , Martin Luther schreibt den Text.

Die Choräle wurden in der Schule gelernt. Der Schulchor führte sie ein in die Gemeinde, sang sie im schlichten vierstimmigen Satz, im contrapunctus simplex. Die Choralmelodie lag in der Oberstimme, gut hörbar für die Gemeinde, die mitsingen konnte. Sie sang die Choräle auswendig, begleitet von der Orgel. Gesangbücher hatten nur der Kantor und der Organist. Dem einfachen “Kantionalsatz” des Chores entsprach der Orgelchoral. Nun wurden die Choräle auch alternatim musiziert, im Wechsel zwischen Chorgesang, Gemeindegesang und Orgelchoral.

Die Choralpartita entstand als Hausmusik zur Andacht und Erbauung, gespielt auf dem Cembalo. Die Choralmelodie wird vorimitiert, zeilenweise durchgeführt, diminuiert, prolongiert, arpeggiert, ornamentiert, das Wort wird interpretiert. Das ist “Klangrede” mit einem Vokabular, verankert in einer Tonordnung, dem Tonsystem. Es entstand in Italien, mit der reinen Durterz als Konsonanz und mit echter Chromatik. Das erklärt die Terzen- und Sextenparallelen in Johann Pachelbels Tonsatz im “Dienst an der Sache”, am Choral.  Die “ortsfesten” Chromata ließen “entfernte” Tonarten nur ausnahmsweise zu, zu besonderem Ausdruck. In As-Dur mit der übergroßen Quinte as(gis) – es heulte der “Wolf”!

Der “Wolf” wurde gezähmt. Der Tonraum wurde erweitert vom Organisten und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister , und er wurde erprobt bei seinem Freunde Dietrich Buxtehude, dem Organisten an St. Marien in Lübeck. In seiner Orgelprobe sagt Werckmeister wie durch Ausweis und Hülfe des Monochordi ein Clavier wohl zu temperieren und zu stimmen sei. Im Vokabular gibt es reine natürlich-harmonische “Klangterzen” und pythagoreische “Spannungsterzen”, echte Chromatik, Enharmonik, Charakteristik der Tonarten. Dietrich Buxtehude schöpft des Vokabular aus, leidenschaftlich. Die objektive kunstvolle Arbeit Pachelbels wird abgelöst von subjektiver Zergliederung bis hin zur Ausdeutung des Sinngehalts der Worte. Das geschieht durch plötzlichen Bewegungswechsel, Taktwechsel, dichtes harmonisches Rankenwerk und viel Ornamentik. Es ist dies im Ansatz der “harmonische Kontrapunkt”, den der junge Arnstädter Organist Johann Sebastian Bach bei Buxtehude in Lübeck erlebte und im Wohltemperierten Clavier demonstriert. Die Tonart wird zum “inneren Ausdrucksmittel” des Wort-Affekts, und alle Dur- und Molltonarten standen jetzt zur Verfügung.

Johann Sebastian Bach ist in Weimar mit seinem nur ein Jahr älteren Freund und Verwandten Johann Gottfried Walther zusammen. Walther ist Organist an der Stadtkirche St. Petri und Pauli, Bach ist Hoforganist und Kammermusikus des Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar. Walther , als Komponist mit Bach auf gleicher Augenhöhe, war auch als Kompositionslehrer gefragt. Sein Musicalisches Lexikon oder Musicalische Bibliothek fasst das musikalisch Wissenswerte zusammen.  Im Gegensatz zu Buxtehude subjektiviert Walther den Choral nicht. Man nannte ihn den “Zweiten Pachelbel”.

Gänzlich anders Wilhelm Friedemann Bach, der älteste Bach-Sohn. Er gab sein Organistenamt an der Kirche Unser lieben Frauen in Halle an der Saale auf. Er fühlte sich eingeengt und ging als freischaffender Künstler nach Berlin. Hier bewundert man ihn, rühmt überschwenglich seine Kunst der Improvisation an der Orgel und am Cembalo. Er improvisiert nicht “modern” wie der Abbé Vogler mit Die durch ein Donnerwetter unterbrochene Hirtenwonne und Das Jüngste Gericht im Programm, sondern er spielt traditionell, im “harmonischen Kontrapunkt”. In den Geisteskämpfen des Verstandesmäßigen im Sinne des Rationalismus der galanten Epoche gegen das Subjektiv-Ausdrucksmäßige der Vorklassik bleibt er dem väterlichen Erbe verbunden. Dies auch, wenn in seinen Kompositionen chromatische Rückungen und Septimen eine Lockerung der Form versuchen und in der Fuge “poetisierende” subjektiv-ausdrucksmäßige Elemente aufkeimen. Das Werden und Wachsen der Form im “gebundenen Stil” bleibt davon unberührt.

So schließt sich der Kreis: Am Anfang ein Christushymnus, zum Schluss ein Hochgesang der Liebe zu Jesus, der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern . Philipp Nicolai, Hauptpastor an St. Katharinen in Hamburg, dichtete den Text und vertonte ihn. Ihm lag daran, eine Art mystischer Frömmigkeit zu vermitteln, auch im seinem “Freudenspiegel des ewigen Lebens”.

Alte Musik bleibt aktuell wider den Zeitgeist. Aber die alten Klangbilder dürfen nicht umgemalt werden. Die auf dem Cembalo in der zugehörigen Tonordnung gespielten Choralbearbeitungen realisieren Ursprüngliches.

CD: Cembalomusik

Dieser Text entstand 2006 in den Wochen nach seinem 99. Geburtstag. Bemerkenswert, bewundernswert erscheint auch, dass Herbert Kelletat als Grundlage zum Schreiben nur sein phänomenales Gedächtnis und Kopien des Notentextes hatte. In seinem Zimmerchen im Heim in Flensburg verfügt er über keinerlei Nachschlagewerke oder sonstige Sekundärliteratur und auf die Technik eines CD-Spielers mag er sich nicht einlassen… So hat er hier ein Beispiel vorgelegt für seine jahrzehntelang konsequent verfolgte Forderung, sich am Notentext zu orientieren. Eine bewundernswerte Leistung dieses 99-Jährigen!