Gesänge der Frühe

 

[Dissertation]
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Temperatur/Bach]
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Temperatur/Klassik]
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Temperatur/Schubert]
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Gesänge der Frühe]
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Musica Sacra]
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CD-Begleittexte]
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Die Kurrende]

Vorwort

Musik, die der Sache der Kirche dient, ist spezifischer Art. Jedoch nimmt die Ratlosigkeit und Unsicherheit in dieser Frage zu. Hier und da kommt es sogar zu deutlichen Irritationen oder gar lauten Zornesausbrüchen.

Da spielte ein Gast unsere Orgel. Es war in der Christmette. Das Instrument gab unter seinen Händen und Füßen aber eigentlich nur unartikulierte Schreie von sich. Grelle Disharmonien gerade in der Heiligen Nacht! Ein alter Pastor konnte es nicht mehr ertragen. Er ging zu Orgelempore hinaus und rief laut in den konfusen Tonsalat hinein: “Hören Sie auf! Hören Sie auf!” - Der Mann gab nach und räumte den Platz auf der Orgelbank. Bei den anwesenden Gemeindegliedern war der drastische Protestakt auf dem Heimweg natürlich Gegenstand mancher Diskussionen. Die Einen fanden das Eingreifendes Ruheständlers ärgerlich, wohl auch nicht dem zur Milde stimmenden Geist des Weihnachtsfestes entsprechend. Toleranz und Freiheit zur Entfaltung künstlerischer Ideen oder Strebungen sind heute einleuchtende Forderungen. - Die Anderen aber verstanden den angesehen Superintendenten und sein Eingreifen als “Notwehr”. Auch ihre Nerven waren bis zum Äußersten strapaziert worden, der alte Herr hatte getan, was sie im Grunde auch gerne gewagt hätten, wenn es ihnen nicht an Mut dazu gefehlt hätte.

Sollte Kirchenmusik nicht dem Wesen des Evangeliums entsprechen? Der “Urschrei” gehört in die psychotherapeutische Praxis. Musik und Gesang, die in der christlichen Gemeinde ihren Ort haben sollen, dürfen nicht aus christusfremden Dimensionen kommen.

Als vor unserem Altar einmal eine laute, hektische Band agierte, schrieb mir ein kirchlich gesonnener Jurist nach dem Erleben des Gottesdienstes, in dem das geschehen war: “Das war Lärm aus der Hölle.” Vielleicht war diese Reaktion etwas zu emotional und daher übertrieben. Dennoch hat mich dieser Satz fortan nicht mehr losgelassen!

Doch wer gibt uns den Maßstab, so oder milder oder noch ganz anders zu urteilen? Wo nehmen wir dazu unseren Standpunkt, den archimedischen Punkt, von dem aus die Situation zunächst einmal überblickt und dann auch verändert werden kann?

Ich bin dankbar, dass Prof. Dr. Herbert Kelletat mit dem hier vorliegenden Buch zu einer Beantwortung dieser gewichtigen Frage wesentlich beiträgt. Er tut dies in der meines Ermessens nach allein möglichen Weise, nämlich so, dass er uns zu den Quellen zurückführt. In der biblischen Zeit sind Wort und Gesang, Botschaft und Musik aufeinander zugeordnet, wesensverwandt, bedingen einander. Von hier empfängt die in Rede stehende Sache ihre eigentliche innere Gültigkeit!

Da diese ursprüngliche Einheit heute verloren zu gehen droht, führt uns der Autor in die Morgenfrühe des kultischen Gemeindegesanges zurück. Aus ihren Anfängen soll und kann Kirchenmusik wieder zu sich selber finden, sachgemäß und damit wesentlich werden. Indem sie Dienerin der großen biblischen Botschaft wird, gewinnt sie ihre Vollmacht und eigentliche Aufgabe zurück.

Kelletat hat mehrere Jahrzehnte in Königsberg, Soest und Berlin als ein verdienter Vertreter der Musica sacra gewirkt. Seine Studenten, Chormitglieder und einstigen Zuhörer aus seinen Konzerten sind ihm gewiss dankbar, dass er sich mit diesem Werk erneut zu Wort meldet, und dies gemeinsam mit der Theologin Dr. Donata Dörfel, seiner Enkelin.

Das Buch hat alle im Blick, denen die Musik in der Kirche ein belastendes Problem geworden ist. Möge das Werk zu einer Erneuerung aus der Substanz beitragen, indem es die Prioritäten nennt. Aus den Ausführungen spricht brennende Sorge, aber auch die Zuversicht, dass Gotteslob möglich bleibt und, in geistlicher Verbindung, mit der “oberen Schar”, weiter erklingen wird.

Eberhard Schendel

 

Nachwort

Im Gottesdienst, in der Liturgie, versammelt sich die Gemeinde zu einer Begegnung mit dem Heiligen. Ziel des Gottesdienstes ist die Erbauung der Feiernden, eine Erneuerung aus der “Quelle des lebendigen Gottes”.

Da in den meisten evangelischen Gottesdiensten solche Erneuerung und Erbauung nur noch sporadisch wahrzunehmen ist, verwundert nicht der allenthalben zu vernehmende Ruf nach “Erneuerung” und das intensive Bemühen Vieler um “neue” und “zeitgemäße” Formen. Muntere, ‚schmissige‘ Liedchen allerdings, die Foren wie beispielsweise den Deutschen Evangelischen Kirchentag “beleben”, tragen jedoch ebensowenig zu einer substantiellen Wandlung bei, wie eine ökumenische “Patchwork”, zusammengestellt aus Versatzstücken unterschiedlicher Herkunft.

Skizzenhaft deutlich, provokativ, zur Weiterarbeit anregend, bieten die vorliegenden Seiten eine “Impuls-Schrift”. Sie entspringt dem Erfahrungsschatz jahrzehntelangen kirchenmusikalischen Wirkens und möchte alle die ermuntern, die an einer grundlegenden Erneuerung evangelischen Gottesdienstes arbeiten. Deshalb ist hier ein Blick geworfen auf Texte und Melodien aus dem werden und den Anfängen christlicher Liturgie, auf die “Gesänge der Frühe”.

In der liturgisch-musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes darf das Eigentliche, Wesensmäßige des Gottesdienstes nicht aus dem Blick geraten: Die Gemeinde ist versammelt zur Begegnung mit Gott in Jesus Christus. ER ist die Stimme, mit der uns Gott anredet, ER betet mit uns den Psalm. Durch IHN werden Worte “Wort”, Töne “Musica sacra”.

Da sind vornehmlich die “Diener am Wort” und “Diener am Lobgesang” gefragt, “Haushalter über Gottes Geheimnisse”.

Es gibt eben nach Form und Inhalt auch dämonische, teuflische Musik. Der Theologe Alfred Dedo Müller sagt dazu: “Nur das am Altar Gottes immer neu geschärfte Ohr kann die Hellhörigkeit gewinnen, um himmlische von teuflischer Musik zu unterscheiden”.

Im ideologischen , utopischen, schwärmerischen, häretischen Stimmengewirr gibt es wohl nur einen Ausweg: Zurück zum Ursprünglichen, zu den Quellen, zur “Mitte” des Gottesdienstes, zurück zu Gottes Wort mit der Bitte:

          Komm, belebe alle Glieder,
          du der Kirche heilig Haupt;
          treibe aus, was dir zuwider,
          was uns deinen Segen raubt.
          Komm, entdeck uns in der Klarheit
          Gottes Herz voll Gnad und Wahrheit;
          lass uns fühlen allzugleich:
          “Ich bin mitten unter euch”.

          Herbert Kelletat
          Donata Dörfel