Vorwort
Die Arbeit, die hier vorgelegt wird, hat ihre lange Vorgeschichte. Als Student an der Universität Königsberg wurde Herbert Kelletat
durch die neue Orgel in der Aula der Universität, deren Disposition Gerhard Mahrenholz entworfen hatte, und durch die Unterweisung des Unterzeichneten, der als Assistent Wilibald Gurlitts in Freiburg das
Entstehen und die umwälzende Wirkung der Praetorius-Orgel hatte miterleben dürfen, schon früh mit den Problemen der Orgelbewegung vertraut. Er bildete sich zu einem tüchtigen und erfahrenen Orgelkundler
und Orgelhistoriker aus. Seine Dissertation “Zur Geschichte der deutschen Orgelmusik in der Frühklassik” (Königsberger Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 15, 1933) behandelt eine schwierige Übergangslage
des Orgelbaus und der Orgelkomposition mit großer Sachkunde. Man spürt, dass der Verfasser sich inzwischen auch eine reiche Erfahrung als Organist, nicht zuletzt durch sein Studium bei Karl Matthaei, und
als Orgelpädagoge (am Institut für Kirchen- und Schulmusik der Universität Königsberg) erworben hat. In organistischer Improvisation verdankt er Gerhard Schwarz Entscheidendes. Der weitere Lebensweg, auf
dem er u.a. als amtlicher Orgelsachverständiger und später als Lehrer für liturgisches Orgelspiel und Improvisation an der Berliner Musikhochschule wirkte, ermöglichte ihm ausgedehnte Orgelreisen zu den
wichtigsten alten und neuen Orgeln. Dabei hat ihn das Problem der rechten Temperatur für die Orgel unentwegt beschäftigt; er bemühte sich, es in der Arbeit langer Jahre zu lösen. Die Frucht ist die
vorliegende Schrift; die Orgel in Wiehl (Rheinland) dasjenige Instrument, an dem er alles theoretisch Erarbeitete praktisch proben konnte. Dieses Ineinander und gegenseitige Befruchten von Praxis und
theoretischer Besinnung
macht auch die Besonderheit der vorliegenden Arbeit aus. Ich gestehe gern, dass die praktische Vorführung einer von ihm und nach seinen Prinzipien umgestimmten Orgel mich wirklich überzeugte.
Nun legt Kelletat hier die ausführliche Begründung vor. Die ersten beiden Abschnitte springen gleich mitten hinein in das Problem.
Hinater der nüchtern-trockenen Sachlichkeit der geschichtlichen Darstellung sürurt man dennoch die Geisteskämpfe, die hier ausgefochten werden. Die Darstellung der Temperaturbemühungen im 18. Jahrhundert
gibt einen guten Überblick über die widerstreitenden Systeme. Sie scheitern letztlich am Problem der Chromatik. Übrig bleibt der Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger, dessen System von nun an im
Mittelpunkt steht. Er meldet gewichtige Bedenken gegen die gleichschwebende Temperatur an und übermittelt uns ein System, das seine Vorzüge bereits beim Stimmen zeigt. Seine “vermittelnde”
Temperatur bleibt gebunden an die physikalischen Wirklichkeiten der Primzahl-Proportionen, bewahrt den Bestand natürlich-harmonischer und pythagoreischer Intervalle unverfälscht und lässt den Tonarten
ihren unterschiedlichen Charakter.
Mit Absicht gehe ich nicht auf weitere Einzelheiten ein, sondern überlasse es dem aufgeschlossenen Leser, den sehr sorgfältigen und
ausführlichen Darlegungen des Verfassers unmittelbar zu folgen. (Auch die Theoretiker des 20. Jahrhunderts erden dabei in ihrer Stellungnahme zum Hauptproblem kritisch erörtert.) Das überraschende
praktische Ergebnis ist, dass die Anwendung der Tonordnung Kirnbergers inder modifizierten Fassung Kelletats für die Musik Bachs (und etwa Buxtehudes) eine überzeugende klangliche Verwirklichung
ermöglcihat und sich darüber hinaus für alle Orgelmusik anbietet, die überhaupt tonal gebunden bleibt. Hier wird der praktische Vergleich und die wissenschaftliche Diskussion einzusetzen haben. Dafür die
feste Grundlage geschaffen zu haben, ist Kelletats Verdienst.
Dr. Joseph Müller-Blattau o. Professor der Musikwissenschaft an der Universität Saarbrücken
Vorwort zur zweiten Auflage
Seit Erscheinen der ersten Auflage vor 20 Jahren hat die wissenschaftlichen Diskussion um das “rechte Tonmaß” ständig zugenommen und
ist, auf Ganze gesehen, vom “leidigen Temperaturstreit” verschont geblieben. Einige mathematische Spitzfindigkeiten und historisch nicht gesicherte Eigenbauten in temperatura musicale haben den Blick
aufs Wesentlichen eher geschärft, so dass auch die musikalische Praxis längst über das Stadium des Experimentierens hinausgekommen ist. Die damals formulierten Thesen und Vorschläge für die
Aufführungspraxis sind offensichtlich aktuell geblieben. Für die zweite Auflage brauchte daher weder geändert noch ergänzt zu werden. Der Brief Albert Schweitzers wurde gleichsam als Nachwort beigefügt.
Im zweiten Band “Wiener Klassik” wird in neuer Perspektive das Wesen, der historische Rang und die “Modernität” der wichtigsten
ungleichstufigen Temperaturen entfaltet.
Herbert Kelletat
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