Studentenkantorei

 

Studentenkantorei

aus: Mein Weg zur Musica Sacra

 

Die Ev. Studentenkantorei Deutschlands

1948 entstand eine übergemeindliche Kantorei ganz eigener Prägung. Ich besuchte meinen Schwager Horst Bannach in einem Hamburger Krankenhaus. Er war Generalsekretär der Ev. Studentengemeinden in Deutschland, mit ihrer Zentralstelle in Stuttgart. An allen Universitäten und Fachhochschulen gab es Singkreise, „Kurrenden“. Bannach hatte den Eindruck gewonnen, dass die musikalischen Fähigkeiten der Kurrendeleiter fast überall zu bescheiden waren, so dass es mehr oder weniger beim „Singsang“ blieb. Wir gingen unverzüglich ans Werk. Sechzig Kurrendeleiter wurden zu einer Schulungswoche in die Diakonenanstalt Rummelsberg bei Nürnberg eingeladen. In einer arbeitsreichen Woche hatte sich ein Tor weit geöffnet. Auf den nachfolgenden Schulungswochen, Singwochen und Singfahrten wuchs geschwisterliches Miteinander in einer „Großfamilie“, die den Reichtum des Empfangenen als Gottesgeschenk weiterreichen durfte. Davon erzählen noch heute, die es erlebt haben. Oberstudienrätin Ilse Kreitz schreibt: Die Zeit, in der die Ev. Studentenkantorei existierte und musizierte, ist keine vergangene Vergangenheit, sondern lebendige Erinnerung und darüber hinaus wirkende Gegenwart im Bewusstsein und Leben derer, die dabei waren. Bei unserem Kantor gab es kein ‚Stimmvieh‘. Es gab aber auch keine ‚heiligen Kühe‘.  Es gab das leidenschaftliche Engagement für die Sache; aber auch jenseits dieses Horizontes gab es Welten.

Ein selbstverständliches Prinzip war Leistung, aber ebenso selbstverständlich wurde Perfektion nicht um ihrer selbst willen angestrebt.  Letztlich wurde nicht einmal die Musik um ihrer selbst willen gepflegt. Sie hatte neben oder mit ihrem ureigensten Daseinsrecht auch den dienenden Zweck und erfüllte damit zugleich eine höhere Aufgabe, die sie wiederum zu ihrer eigenen höchsten Vollendung führte. Musik als Vermittlerin des Wortes, so lernten wir sie kennen, als ein der Sprache ebenbürtiges Idiom für Predigt und Verkündigung.  Zur „Atmosphäre“ in der Kantorei sagt sie: Ãœbermütige Freude und ernsthaftes Bemühen, konzentriertes Arbeiten und gymnastische Auflockerung, Musizieren und Philosophieren lagen nicht nur nah beieinander, sondern bewirkten im gegenseitigen Durchdringen eine Intensität des Lebensgefühls, die geradezu einmalig war. Das Bleibende aus jener Zeit ist das Erlebnis einer alle Komponenten umfassenden Ganzheit. Unsere Welt war nicht ohne Probleme, aber sie war ganz und die heilste aller denkbaren Welten. Durch diese Erfahrung baute uns das Leben einen Ringwall der Erin­nerung gegen den Ansturm aus Gegenwart und Zukunft.

Nach einer Abendmusik in Gelsenkirchen am 9. 11. 1949 wollte der Zeitungsreporter Näheres wissen über den Auftrag und die Pläne des Chores. Einer sagte es ihm: „Wir sind einfache Spielleute und schätzen uns glücklich, Helfer bei der Verkündigung des Wortes zu sein.“ Ein Berichterstatter sucht das Gespräch, er schreibt: Wir saßen mit Studentinnen und Studenten aus allen Zonen, von fast allen deutschen Universitäten und aus fast allen Fakultäten zusammen. Wir gestehen, dass wir seit dem Zusammenbruch kaum freudvollere und beglückendere Stunden erlebt haben. – Wieviel Schicksale erfuhren wir, wieviel Fährnisse, wieviel Bekenntnisse, daß einem gerade in der schwersten, ausweglosen Not die Gewissheit des Heils geschenkt worden sei! Man sprach frei und mit einer geheimen Fröhlichkeit. Und es wurde uns auch von allen Teilnehmern bestätigt, dass dieses Gefühl der inneren Fröhlichkeit all diese gemeinsamen Tage überglänze, dass man in der Gebundenheit an Christus zu solcher Haltung gefunden habe, von der man nun in  den einzelnen Studentengemeinden künden wolle. In Zeitungsberichten war zu lesen vom „religiösen Geist, der dem willig empfangenden Hörer aus jedem gesungenen und gesprochenen Wort entgegenkam“, und „so war es mehr ein Gottesdienst, als eine der gewohnten Veranstaltungen auf kulturellem Gebiet.“ Natürlich war auch die Rede von „wunderbarer Gesangs- und Sprachkultur“, von „steter Durchsichtigkeit des Stimmgefüges“, vom „lichten Maßwerk der Koloraturen“.

Was auf den Singfahrten gewachsen und gereift war, durften wir auf der „Evangelischen Woche“ 1949 in Hannover einbringen. Zurückgezogen in ländlicher Stille, im „Haus Waldeseck“ im Dorf Bothfeld, bereiteten wir uns vor. Da stand die Kantorei eines Morgens auf der Feldwiese am Bahndamm im Halbkreis vor mir, wie gewohnt zu Atem- und Stimmbildungsübungen. Als genug gelockert, gegähnt, das Zwerchfell aktiviert und saubere, farbige Klänge erreicht waren, bat eine Studentin: „Wir möchten gern noch was singen“. Und was wollten sie singen? „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ Und da sangen sie den 1. Satz der doppelchörigen Motette von Joh. Seb. Bach, auswendig! Diese „einfachen Spielleute“! Die Motette war „eingewachsen“, in Kleinkreisen „buchstabiert“ und im Plenum „kultiviert“ worden.

In der Niedersachsenhalle sangen wir zur Morgenandacht und zum Abendsegen vor allem aus der „Kurrende“, einer Sammlung geistlicher Chorsätze, die ich im Auftrag der Ev. Studentengemeinde in Deutschland herausgegeben hatte.

Unsere „Hauptmusik“ hatte ihren Platz im Eröffnungsgottesdienst, im Abschlussgottesdienst mit der Feier des Heiligen Abendmahls und in drei Abendmusiken. Am letzten Abend kamen wir dem vielfach geäußerten Wunsch nach, noch einmal Motetten von Heinrich Schütz und Joh. Seb. Bach ins Programm aufzunehmen.  Hinzu kam die Deutsche Messe „Kyrie Gott Vater in Ewigkeit“ von Ernst Pepping. Beim „Christ: aller Welt Trost, uns Sünder allein hast erlöst“ sah ich auf der Wand hinter dem Abendmahlstisch, hoch über den Singenden, ein Kreuz aufleuchten. Eine Sinnestäuschung? Hörer, die ich befragte, hatten es ebenfalls gesehen.

Um den Chor in seiner Arbeit näher kennenzulernen, besuchte uns Landesbischof D. Hanns Lilje in unserem „Feldlager“ Haus Waldeseck. Der Bischof hat die Singwochen und Singfahrten in den Jahren danach beobachtet. Wir meldeten uns und gaben Bericht. Es besuchte uns auch Rudolf Alexander Schröder. Bei seiner Eröffnungsrede zur Ev. Woche standen wir an seinem Rednerpult, sangen eine Schütz-Motette. Hier sangen wir sein Abendlied „Noch hinter Berges Rande“, vertont von Christian Lahusen, und die Bach-Motette „Komm, Jesu, komm.“ Der Dichter sagte, er wäre nun alt geworden, und er sehne sich nach dem Frieden, von dem wir gerade gesungen hätten. Und wenn es hier unten schon so wunderbar klänge, wie wird das erst in der oberen Heimat sein. Er bedankte sich so herzlich und fügte hinzu „Nun können wir hier ja nur den Saum des Mantels fassen“.

Im Bachjahr 1950 stand zunächst die „Matthäuspassion“ im Mittelpunkt. Wieder lasen wir uns hinein in die Tonsprache Joh. Seb. Bachs, in das, was Bach darstellt, deutet, in musikalischen „Figuren“, Symbolen und Zahlen. Ein besonderer Glücksfall: Die Solisten! Der Tenor Martin Hüneke, ehemaliger Thomaner, sang den Evangelisten, Prof. Erwin Ross, der Bass-Solist, hatte am Hochschulinstitut für Musikerziehung und Kirchenmusik in Königsberg meine Frau Margarete als Altistin und seine Frau Marianne als Sopranistin ausgebildet. Die Ausgewogenheit in Klang und Ausdruck war gewährleistet, z.B. in der Sopran-Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ das Duett zwischen Singstimme und Querflöte, oder in der Alt-Arie „Er­barme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen“ das Duett zwischen Singstimme und Violine.  Wir musizierten die „Matthäuspassion“ in Altena, Lendringsen, Menden und Soest.

Auf einer Singwoche in Wiehl im Oberbergischen, eingeladen von der Kirchengemeinde, wurde die h-Moll-Messe von Joh. Seb. Bach erarbeitet.  Und wieder ging es darum, „Schätze des Glaubens“ zu heben; wieder nahmen uns die „inneren“ Ausdrucksmittel in die Pflicht, uns an die „Sache“ zu binden, an den „musikalischen Ausdruck“ in Bachs Tonsprache.

Wir hatten zehn Tage Zeit, uns vorzubereiten, aber wir ließen uns Zeit, ließen es wachsen, und es wuchs. Horst Bannach sah das Wachsen und Werden der Formen und Farben im Spannungsfeld der Aussagen: „Schaffet, dass ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“ (Phil.2,12) und „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Römer 9,16).

Das sich in der „Matthäuspassion“ bewährte Unnaer Kreisorchester wurde verstärkt durch den befreundeten Professor für Trompete an der Kölner Musikhochschule Adam Zeyer und seinen Assistenten.

In der Generalprobe hatte der seinen erkrankten Kollegen vertretende Pauker im „Sanctus“ die jeweils sechs Schläge nicht beachtet, schlug einen indifferenten Paukenwirbel. Nun ist aber die Zahl Sechs als heilige Zahl im „Sanctus“ formend, ordnend, deutend, symbolisierend: Jesaja 6, 6 Flügel der Cherubim, daher 6-stimmiger Chor, 6 Blasinstrumente. Die Zahl redet, sie wirkt.

In der Aufführung hat der Pauker „richtig“ gepaukt. Er gestand, nachts auf der Tischplatte die 2x3=6 Schläge geübt zu haben. Sanctus, sanctus! Da „zittert Schwell und Balken gar“, wie Martin Luther es sagt, ähnlich wie im „Gloria“ nach der etwas „verhüllten“ Bass-Arie „Quoniam tu solus sanctus“ das glänzende Gewoge des „Cum Sancto Spiritu in gloria Dei Patris.“ Wir musizierten das gewaltige Werk außer in Wiehl in Altena, Klafeld, Soest, Lippstadt und Berlin. Als in der Lippstädter Martinskirche das „Dona nobis pacem“ verklungen war, ging Superintendent Dahlkötter durchs Kirchenschiff und rief: „Gott sei Lob und Dank, dass wir das erleben durften!“  Eine Studentin sagte: „Wir möchten’s am liebsten gleich noch einmal singen“. Und das nach einer solchen Anstrengung!  Das war Hingabe, Begeisterung. Ohne diese wäre die Erarbeitung der h-Moll-Messe auf einer Singwoche gar nicht möglich gewesen.  Ein Hörer, Reporter der „Westfalenpost“, schreibt: Wer aus der Tradition des Aufführungsstiles, wie er gemeinhin Aufführungen von Bachs h-Moll-Messe eigen ist, in diese Darbietung kam, der konnte meinen, eine veränderte, ganz und gar andere Musik zu hören, als er sie in Erinnerung hatte. Als man die Kirche verließ, gedachte man wohl des Rilke-Wortes: „Heil mir, dass ich Ergriffene sehe. Schon lange war uns das Schauspiel nicht wahr, und das erfundene Werk sprach nicht entscheidend uns an --- .

„Begeisterung“, ein vielschichtiger Begriff. Auf einer Singfahrt nach Fröndenberg hatten wir uns etwas verspätet. Im Gemeindesaal waren Tische reich gedeckt mit Kaffee und Kuchen; ein Labsal unter Glockengeläut, das etwas verlängert wurde. Bei der Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ von Joh. Seb. Bach, gleich am Anfang, musste ich das Tempo zügeln, und die „wehenden“ Koloraturen als „musikalische Figur“ des Wortes „Geist“ mussten „entschlackt“ werden. Hier war es der Bohnenkaffee, der zur Eile trieb und vergröberte! Beim Dionysos, im gellenden Gesang der Silenen und Mänaden, der in die Glieder fahrenden Instrumentalmusik, war es der Wein, „daraus unordentlich Wesen folgt“ (Eph. 5,18).

Auf einer Singwoche in Traben-Trarbach „folgte“ solch „Wesen“ auch bei uns, als wir auf einer Wein­probe „Mosellas Feuerwein“ zwar nicht übermäßig, aber gründlich verkosteten. In der für den Abend angesetzten Chorprobe in unserem Schlösschen am Moselufer wurde folgerichtig nicht an einer Motette gearbeitet, sondern das Tanzbein geschwungen. Pfarrer Schommer war selbstverständlich mit dabei. ---

Am 15. Oktober 1950 wurde die im Krieg beschädigte Kirche „Maria zur Wiese“ in Soest wieder eingeweiht. Auch Bundespräsident Theodor Heuss nahm daran teil. Die Studentenkantorei sang u.a. die Motette „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ von Heinrich Schütz und „Singet dem Herrn ein neues Lied“ von Joh. Seb. Bach. Herrlicher Jubelklang in der gotischen Hallenkirche!

Pfingsten 1958 klang der 3. Deutsche Evangelische Akademikertag in Düsseldorf    aus mit der Bach-Motette „Komm, Jesu, komm“.

Bis hinein in die siebziger Jahre blieben Mitglieder der Studentenkantorei im gemeinsamen Dienst am Lobgesang, vor allem auf den Altenaer Singwochen und Singfahrten, und sie sangen immer wieder mit in der Kantorei der Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf.

Seit 1950 bereitete ein Arbeitskreis der Studenten mit mir zusammen die Singwochen vor und nahm mir weitgehend die Verwaltungsangelegenheiten ab. Zu den ersten gehörten Karl-Heinz Beumer, Kurt Klaaßen und Walter Topp, und viele folgten ihnen.  Es war ein wunderbares, von der Freude am gesungenen Lob Gottes erfülltes Miteinander.

Bei einem Treffen nach dreißig Jahren im Hause Hans-Joachim Hengelhaupts in Herne wurde noch einmal das Lied aus der „Kurrende“ gesungen, das unsere Abendmusiken ausklingen ließ: „Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du, Herr Jesu Christ; dich will ich lassen walten und allezeit in Lieb und Leid in meinem Herzen halten.“